Nordlichter

Ingrid Greubel da Silva für #kkl23 „Leitsterne und Irrlichter


Nordlichter

Die Kälte war erbarmungslos. Sie hatte sich trotz meiner warmen Kleidung in jeden meiner Knochen gefressen, die eisige Luft biss mir in den Lungen. Mein Finger, der nach wie vor auf dem Auslöser lag, war steif. Auch durch meine Winterstiefel drang die Kälte des schneebedeckten Bodens, der bei jeder meiner Bewegungen leise knirschte. Seit zwei Stunden standen wir nun hier. Wieder. Die zweite Nacht in Folge. Lag es allein an der Temperatur, dass ich so erbärmlich fror? Oder war auch die Tatsache schuld, dass ich in den letzten drei Nächten kaum geschlafen hatte? Müdigkeit raubte mir schon immer jede Isolation, die mein Körper normalerweise aufbringen konnte, und hinterließ in mir das Gefühl als könne die Kälte in mich eindringen wie in einen Rohbau ohne Fenster. Immer wieder wanderte mein Blick zum Horizont. Würden sie diesmal kommen? Eine neue eiskalte Windböe fegte über die leere Ebene, auf der wir standen. Hier gab es nichts, was uns Schutz bot. Kein Haus, keine Bäume, nicht einmal einen der schroffen Felsen, die mich hier in Island so faszinierten.

„Da!“ Pètur, der Reiseleiter, stand direkt neben mir und das Wort riss mich aus meinen Gedanken. Mein Blick schoss zum Horizont. Und tatsächlich! Am dunklen Himmel war ein sanftes grünes Flackern zu erkennen, das jedoch im nächsten Moment wieder verlosch. Ein Raunen ging durch die Touristengruppe, die hier mit mir fror.

„Es ist w-w-w-wieder w-w-w-weg“, schlotterte ich enttäuscht.

„Geduld! Sie kommen nie allein!“, grinste mich Pétur an. Ja, Geduld, sehr witzig. Hätte ich die Konstitution eines Eisbären, wäre ich bei -25° Celsius bestimmt auch so geduldig wie er! Mit seiner Größe von fast zwei Metern und seinen 100 kg Körpermasse strahlte Pétur eine gelassene Ruhe aus, die unter anderen Bedingungen sicher auf mich übergegangen wäre. Doch heute bekam er für die Bemerkung nur ein Grunzen von mir. Er kicherte und blickte wieder zum Horizont.

„Guck!“ Er hatte recht. Wieder flackerte das leuchtende Grün in der Ferne auf. Zunächst konnte ich nur ein sanftes Glimmen erkennen, das schließlich größer wurde und sich in die Länge zog. Dann begann das Nordlicht sich zu bewegen. Wie in einem Tanz zu einer Musik, die meine Ohren nicht wahrnehmen konnten, zog es vor unseren Augen von links nach rechts und wieder zurück, schien auf uns zuzuschweben, um dann kleiner zu werden und in der Ferne wieder neu zu erwachen.

„W-w-wow… “

„Cool, oder?“

„M-m-mega…“ Mir fehlten die Worte. Noch nie hatte ich etwas so Berührendes gesehen. Schnell schoss ich ein paar Fotos. Nun begriff ich, wie die Menschen früher glauben konnten, dass hier Götter am Werk waren. Die Nordlichter seien die Reflexionen der Rüstungen der Walküren, die die gefallenen Krieger in Odins Reich führten. Das hatte Pétur auf der Fahrt hierher erzählt. Wo wohl gerade Krieger starben? Plötzlich spürte ich, dass mir Tränen über das Gesicht liefen. Sanft legte Pétur seinen Arm um meine Schultern. Sofort schien ein Teil der Kälte aus meinem Körper zu weichen.

„Alles okay mit dir?“, fragte er ganz leise, so, dass außer mir niemand die Worte hören konnte.

 Ich schluckte schwer und nickte dann. „Ja. Nein. Ich weiß nicht. Ich bin ganz durcheinander“, erwiderte ich.

„Manche Menschen berühren die Lichter mehr als andere. Manchmal lösen sie etwas in uns, von dem wir gar nicht wussten, dass es da ist“, erklärte Pétur.

Ich riss meine Augen von den grünen Himmelslichtern los und schaute ihm ins Gesicht. Sein Blick war ernst, das übliche freche Grinsen war verschwunden.

„Für uns Isländer sind die alten Geschichten mehr als Legenden, weißt du?“

Hatte er meine Gedanken gelesen? „Glaubst du an die Wallküren, Odin und das alles?“, wollte ich wissen.

„Ob sie so heißen, kann ich dir nicht sagen“, antwortete er zögernd. „Aber dass die Nordlichter mehr sind, als elektrische Sonnenstürme, die in der Atmosphäre zu leuchten beginnen, davon bin ich fest überzeugt.“

Ich löste mich aus seinem Arm. „Und wo sterben gerade isländische Soldaten?“, forderte ich ihn heraus. Das konnte doch nicht wahr sein, dass er mir jetzt mit diesem esoterischen Quatsch kam.

 „Wer redet den von Isländern? In der Ukraine, im Irak, in Afghanistan – such es dir aus. Die Welt will Blut. Überall sind Kriege.“

Da hatte er recht. Mein Blick wanderte wieder zum Horizont und die Kälte kehrte in meinen Körper zurück. Diesmal kam sie aber nicht von außen. Sie kam aus meinem Herzen. Mein Bruder war bei der Bundeswehr und er war in Mali. Seit fünf Monaten.

Nach etwa einer halben Stunde verloschen die Nordlichter.

„So, Leute, die Show ist beendet. Wir hoffen, es hat Ihnen gefallen! Jetzt husch, husch in den warmen Bus!“ Das musste Pétur nicht zweimal sagen. Die Touristen liefen brav zum Bus und stiegen plaudernd ein. „Kommst du auch?“, hörte ich Pétur plötzlich dicht neben meinem Ohr.

 „Ja. Ja, klar.“ Ich senkte meinen Blick, der immer noch in den leeren Nachthimmel gerichtet gewesen war, und wandte mich um.

Pétur sah mich besorgt an und nahm mich dann kurz in den Arm. „Wir können unserem Schicksal nicht entkommen.“

Was meinte er damit? Aber ich fragte nicht nach, sondern ging schnell zum Bus. Irgendwie war Pétur mir unheimlich geworden.

Die Fahrt zum Hotel schien endlos und doch bekam ich sie kaum mit. Als ich in meinem Zimmer angekommen war, setzte ich mich aufs Bett und nahm meine Kamera in die Hand. Ich übertrug die wenigen Bilder schnell auf mein Tablet und öffnete die Galerie. Die ersten drei Fotografien zeigten verschwommen das grüne Leuchten und ich wischte weiter. Dann stockte mir der Atem und mein Herz blieb stehen. Ein Foto war gestochen scharf. Weiße Schneelandschaft, die grünen Nordlichter am Himmel. Doch in der Mitte der riesigen freien Fläche stand ein Mann und blickte direkt in die Kamera. Da war aber doch niemand gewesen! Mit zitternden Fingern zoomte ich in das Foto hinein und erkannte, was ich schon geahnt hatte. Da stand mein Bruder und blickte mich an. Seine Uniform hatte auf der linken Seite der Brust ein Loch aus dem Blut floss. In diesem Moment klingelte mein Handy auf dem Nachttisch.







Ingrid Greubel da Silva Ich wurde 1978 in Nürnberg geboren und bin auch in Mittelfranken aufgewachsen. Von Kindheit an zeigten mir meine Eltern die große weite Welt, so dass es niemanden überraschte, als ich nach dem Abitur und meiner ersten Ausbildung zur Fremdsprachenkorrespondentin erstmal das Weite suchte, um ein halbes Jahr in Südamerika zu arbeiten. Nach der Rückkehr und einem Jahr im Büro entschloss ich mich, Lehramt für Realschule zu studieren und bin diesem wunderschönen Beruf seit fast zwanzig Jahren treu. Neben der Arbeit sind Reisen, Harfe und Theater spielen, Lesen und Schreiben Hobbys, die ich gerne pflege. Nach einem beruflichen Ausflug in die Welt der Autoren beschloss ich, mich tiefer mit der Schriftstellerei zu beschäftigen. Ich lebe mit meinem Mann und unserem Hund im fränkischen Seenland.





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Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin und ZeitenGeist Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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