Pascal Gut für #kkl24 „Erlauben“
Mit Mutter am Tisch
Das einstöckige Einfamilienhaus steht am Ende einer unbefahrenen Straße. Durch das Tor vor der Einfahrt kann Erik seine Schwester sehen, die neben ihrem Auto steht und rauchend auf ihr Handy starrt. Erik betätigt den Klingelknopf, kurz darauf ertönt ein Surren und er kann das Tor aufschieben. Seine Schwester winkt ihm ernst und nachdenklich zu. Ihr Gesichtsausdruck erscheint ihm bitter. Dem Anlass angemessen, wie er findet.
«Hast Du mir eine?», fragt er und obwohl sie ihn noch nie hat rauchen sehen, hält sie ihm das Päckchen mit den Kippen wortlos hin und reicht ihm schließlich Feuer. Keine herzliche Umarmung. Das war noch nie ihr Ding. Erst recht nicht an diesem Abend. Sie ist mit ihrem Handy beschäftigt, während er sich in der Einfahrt umschaut. Ein kleiner Gartensitzplatz. Einfach, aber gemütlich. Er erkundigt sich nach Tobi, seinem Neffen. Es gehe ihm gut. Er mache Fortschritte in der Schule, antwortet seine Schwester gedankenverloren. Seine Uhr zeigt ihm an, dass es Zeit ist.
«Bist Du parat», fragt er, drückt seine Zigarette aus und, als er keinen Eimer findet, lässt er den Stummel unter Vrenis Auto verschwinden.
«Wart noch rasch, wir müssen uns kurz besprechen.» Ihre Worte machen ihn nervös. Sie will von ihm hören, dass er auf ihrer Seite steht. Er sie da drin gleich unterstützen werde. «Klar», sagt Erik tonlos. «Nicht klar, ich muss mich auf Dich verlassen können. Du musst mir den Rücken stärken.» Sie vertraut ihm nicht. Das verletzt ihn.
Die Tür des Hauses geht auf, eine junge, dünne Frau mit kurzen schwarzen Haaren, in einem dunkelgrauen Rollkragenpullover tritt heraus. In ihrem Gesicht deutet sich ein schüchternes Lächeln an. Sie führt die beiden in eine enge Garderobe, wo sie ihre Jacken aufhängen und dann treten sie in eine Art Wohnzimmer. Ein grosser Holztisch. Darauf eine Karaffe Wasser und Gläser aus dem Ikea ineinandergestapelt. Ihre Mutter sitzt bereits da und beobachtet sie. Sie wirkt ungewohnt schüchtern und trägt das dunkelblaue Sakko, das ihre Schultern breiter erscheinen lässt. Mit ihrer heiseren Raucherstimme raunt sie ein «Hallo, danke, dass Ihr gekommen seid». Ihre beiden Hände halten das Glas vor sich umschlungen, als müsse sie sich daran festhalten. Die junge Frau lädt ihn und Vreni ein, sich zu setzen und gießt allen ein Glas Wasser ein. Vreni und er nehmen auf der gegenüberliegenden Seite ihrer Mutter Platz. Die junge Frau, die sich als Eliane Müllervorstellt, setzt sich neben ihre Mutter. Sie leitet das Gespräch ein. Ganz förmlich. Bedankt sich wie ihre Mutter zuvor schon für ihr Erscheinen, erklärt dann ihre Rolle in dem ganzen Prozedere.
Sie habe ihre Mutter die letzten Monate über begleitet. Habe sie bei allen nötigen Abklärungen unterstützt und viele Gespräche geführt.
Erik kann sich nicht erinnern, seine Mutter schon mal so gesehen zu haben. Schamhaft undscheu, der Blick unsicher, die Stimme, als sie zu reden anfängt, klingt brüchig und leise. Es fällt ihr sichtlich schwer, die richtigen Worte zu finden und Sätze zu bilden. Immer wieder unterbricht sie sich, sucht den Blickkontakt zu der jungen Frau neben sich. Ihre Kinder anzuschauen, das bringt sie kaum fertig. Ist das hier wirklich noch seine Mutter? Diese starke eigensinnige Frau, welche ihn und seine Schwester großgezogen hat? Immer in Bereitschaft, ihre Kinder oder die Sachen, die sie für richtig hält, gegen alle Widerstände zu verteidigen? Eine überzeugte Feministin und Marxistin. Kettenraucherin und engagierte Gewerkschaftlerin. Wenig sentimental, dafür ruppig im Ton und manchmal auf verletzende Weise direkt und ehrlich. Eine Frau, die laut wird, wenn sie Ungerechtigkeiten zu erkennen glaubt.
Seine Mutter redet jetzt von Dingen, die sie für gewöhnlich für sich behielt, weil sie ihre Kinder damit nicht belasten mochte. Von ihren inneren Dämonen. Dem anhaltenden Leiden. Von den Depressionen. Sie hat aus der Tatsache, dass sie an Depressionen leidet, nie ein Geheimnis gemacht. Von früher Kindheit an wussten Erik und seine Schwester darüber Bescheid. So, wie sie davon wussten, dass nach dem Sommer der Winter kommt. Es gab Monate, die sie bei ihrem Vater verbrachten, während ihre Mutter in der Klinik war, was alle paar Jahre vorkam. Mit der Zeit war Erik in der Lage, die Krisen vorauszusehen, die Anzeichen zu lesen. Seine Mutter sprach dann weniger, stand häufiger wortlos in der Küche und schaute gedankenverloren drein, rauchte und trank mehr als üblich, blieb die ganze Nacht über auf und tigerte durch die Wohnung, während sie tagsüber nicht aus dem Bett kam.
Die Depressionen waren eine Tatsache. Ein unsentimentaler Fakt. Und ihre Mutter scheute sich nie, offen und ehrlich die Sache beim Namen zu nennen. Wie eine Naturwissenschaftlerin, die das Objekt ihrer Untersuchung benennt und nüchtern erklärt. Doch das jetzt ist anders. Ihre Mutter erzählt zum ersten Mal davon, was die Depressionen mit ihr machen, was in ihr drin vorgeht.
Von dem, was nicht messbar ist. Von dem unaufhörlichen Ringen. Davon, wie sie jeden Morgen einen neuerlichen Kampf mit sich ausfechten muss, um es aus dem Bett zu schaffen. Zum ersten Mal nennt sie ihren beiden Kindern gegenüber die Verzweiflung beim Namen, von der sie tagtäglich seit den letzten 30 Jahren treu begleitet wird und die einfach nicht von ihr ablässt, trotz der Antidepressiva und Therapien. Sie erklärt mit rührender Eindringlichkeit, wieso sie sich vor Monaten bei dem Verein «Abschied» angemeldet hat, und wieso sie nun alle hier zusammen sitzen.
In der Zwischenzeit musste sie zahlreiche Abklärungen über sich ergehen lassen, sich immer wieder von neuem rechtfertigen und fremde Menschen davon überzeugen, dass ihr Leiden schwerwiegend und ihr Wunsch zu sterben, anhaltend ist. Nachdem ihre Mutter verstummt ist, erklärt Eliane Müller das weitere Vorgehen. Die Wirkung des Medikaments, welches ein Arzt ihrer Mutter verschreiben wird, und mit dem sie in der Lage sein wird, ihrem Leben ein selbstbestimmtes Ende zu setzen.
«Ich verlange von Euch nicht, dass ihr dabei seid», sagt Eriks Mutter schließlich und Erik meint, zu spüren, wie viel Überwindung es sie kostet, in dem Moment ihre beiden erwachsenen Kinder anzusehen, «Ihr müsst gar nichts. Ich will bloss, dass ihr wisst, dass es mein aufrichtiger Wunsch ist. Die lang ersehnte Erlösung. Und, dass es nichts mit Euch zu tun hat. Ich meine, ihr habt mir all die Jahre über die Kraft gegeben, um es überhaupt so lange zu ertragen.» «Blödsinn», unterbricht Vreni ihre Mutter, «Das ist Blödsinn, Mama. Und vor allem ist es total egoistisch von Dir, uns das anzutun. Denkst Du überhaupt an irgendwen ausser Dir selbst?»
«Schatz», sagt ihre Mutter, doch Vreni redet sich nun in Rage. «Du bist krank. Ja, Du bist krank. Das wissen wir und wir nehmen das sehr ernst. Wir haben Dich immer unterstützt. Aber das hier ist keine Lösung. Und ich werde das auch niemals akzeptieren. Ich werde es nicht zulassen, verstehst Du? Und Sie», sie schaut die zierliche Gestalt von Eliane Müller an, «Ich werde Sie und ihren Drecksverein verklagen! Was Sie hier tun ist absolut unverantwortlich! Es ist ein Verbrechen!»
Eliane Müller versucht gar nicht erst, sich zu rechtfertigen. Sie lässt Eriks Schwester reden, drohen und schimpfen, und schaut bloß verständnisvoll drein.
Seine Mutter ist mit Vreni raus auf den Balkon gegangen, um zu rauchen. Erik beobachtet durch das Fenster, wie seine Schwester aufgebracht gestikuliert und auf seine Mutter einredet. Eliane Müller stellt ihm eine Tasse Kaffee hin. Beim ersten Schluck verbrüht er sich die Zunge. «Haben Sie das schon oft gemacht», fragt Erik schließlich. «Was?» «Menschen in den Tod begleitet.» «Es ist das dritte Mal. Ist das oft?» «Was ist, wenn es sich meine Mutter plötzlich anders überlegt, nachdem sie das Medikament genommen hat? Was, wenn sie es zu sich nimmt und dann auf einmal merkt, dass sie doch noch nicht sterben will?» «Ich glaube nicht, dass das passieren wird. Ihre Mutter hat sich intensiv mit ihrem Tod auseinandergesetzt. Sie möchte es wirklich.» «Ja, aber Sie können es nicht wissen. Ich meine, wenn doch, wäre es dann nicht schon zu spät? Es gebe dann doch kein Zurück mehr, oder?»
Sie schaut ihn an, ohne etwas zu sagen.
«Das ist doch scheiße», platzt es aus ihm heraus, «Vielleicht will sie bloss sehen, ob wir uns um sie bemühen oder nicht? Vielleicht braucht sie eine Bestätigung, dass wir sie wirklich lieben. Und, wenn wir jetzt sagen, dass wir sie nicht davon abhalten, nimmt sie das als Bestätigung dafür, dass sie uns gleichgültig, ja sogar, dass wir erleichtert wären, wenn sie tot ist.» «Darum geht ee nicht», ihre ruhige, sanfte Stimme regt ihn mit einem Mal furchtbar auf. «Das wissen Sie nicht!», er erschrickt selbst davon, wie laut seine Stimme tönt. Erik steht auf und ohne ein weiteres Wort zu sagen, verlässt er die Wohnung.
Er setzt sich in den nächstbesten Bus und fährt bis zur Endhaltestelle. Auf seinem Handy sind mehrere Sprachnachrichten seiner Schwester eingegangen. Ohne sie zu lesen, schaltet er das Gerät aus. Zwei Stunden später, es ist inzwischen finstere Nacht, steht er wieder vor dem unscheinbaren Einfamilienhaus. Eliane Müller öffnet die Tür. Sie wirkt nicht überrascht, ihn zu sehen. Sie trägt eine Brille, die sie älter und reifer erscheinen lässt. «Sind die beiden noch da», fragt Erik und sie schüttelt den Kopf, ohne was zu sagen. Sie fragt nicht einmal nach, was er um die Uhrzeit noch hier wolle.
«Ich hab mich daran erinnert, wie mich als Kind der Gedanke ans Sterben um den Verstand gebracht hat», erzählt er ihr, «Ich lag stundenlang wach im Bett und suchte verzweifelt nach einer Lösung.» «Einer Lösung für was?» «Um mit der Unvermeidlichkeit des Todes umzugehen. Ich meine, die meisten Leute finden Trost im Glauben an irgendeine Art ewiges Leben, das nach dem Tod auf sie wartet. Ich fand diese Vorstellung immer schrecklich. Wie ein sich in alle Ewigkeit drehendes Hamsterrad, aus dem es kein Entrinnen gibt. Bleibt also bloss der Tod als Ende. Als absolutes Ende. Das Nichts. Ein schwarzes, unendlich tiefes Loch, das einen und alles, was einen ausmacht, verschlingt. Allein schon der Gedanke daran machte mich starr vor Angst.»
«Das tut mir leid», sagt sie bloß.
«Inzwischen weiss ich, dass es keine Lösung gibt. Es ist ein klassisches Dilemma. Das Einzige, was man tun kann, ist nicht darüber nachdenken.» Sie macht einen Schritt auf ihn zu und schaut kurz, fast ein wenig verträumt, in den Himmel hoch, bevor sie sich wieder ihm zuwendet und meint:
«Ich hab mal von einem Philosophen gelesen. Ich hoffe, ich kriegs richtig zusammen. Aber der meinte, dass unsere negativen Gefühle dem Tod gegenüber unvernünftig seien, weil wir ja auch keine negativen Gefühle gegenüber der Zeit vor unserer Geburt haben. Er meinte, dass beides dasselbe sei. Die Zeit vor der eigenen Geburt, wie die Zeit nach dem eigenen Tod. Das eine war nicht schlimm für uns, also wird es das andere auch nicht sein.» Er lässt einen Moment die Worte auf sich wirken. Denkt nach. Dann grinst er:
«Nää, überzeugt mich nicht so recht», er lacht kindlich. Sie streckt ihre Hand nach ihm aus und berührt seine Schulter. Dabei rutscht der Ärmel ihres Pullis ein Stück zurück und er meint, alte Narben auf ihrem Handgelenk zu erkennen. Ihre Berührung wärmt ihn. Es fühlt sich nach hier und jetzt, nach Gegenwart und Leben an, nach Sicherheit und Halt. Und für einen kurzen Moment wünscht er sich, dass sie ihn nie wieder loslässt.
Als er im Bus nach Hause sitzt, schreibt er seiner Schwester. Sie hat ihm eine Nachricht geschickt, in der sie ihm vorwirft, sie im Stich gelassen zu haben. Er entschuldigt sich. Vreni ist noch wach und antwortet umgehend. Sie werde mit rechtlichen Schritten gegen die Leute vorgehen, schreibt sie, sie werde ihre Mutter für nicht zurechnungsfähig erklären lassen.
An der Tramstation, wo Erik aussteigt, läuft ein Obdachloser die Mülleimer ab und sammelt weggeworfene Zigarettenstummel vom Boden auf. Er fragt Erik nach Kleingeld für die Notschlafstelle. Für gewöhnlich gibt Erik solchen Typen nichts, weil er überzeugt ist, dass sie damit bloß Fusel oder Drogen kaufen. Jetzt leert er den Inhalt seines Kleingeldbeutels in die geöffnete, schmutzige Hand des Mannes, der sich artig bedankt.
Erik hat Glück. Er schafft es gerade noch auf das letzte Tram zu seiner Wohnung. Aus dem Tram heraus kann er beobachten, wie der Obdachlose sich einen der Zigarettenstummel zwischen die Lippen klemmt und erfolglos versucht, ihn mit einem alten Feuerzeug anzuzünden.
Auf der Fahrt nickt Erik ein und er wird von einer weit zurückliegenden Erinnerung eingeholt. Mitten in der Nacht war er aufgestanden, nachdem er im Bett stundenlang Gedanken umhergewälzt hatte. Im Wohnzimmer stieß er auf seine Mutter, die dort bei offenem Fenster mit einer Flasche Wein und einem überquellenden Aschenbecher sass, fern schaute und rauchte. Warum er denn noch wach sei, wollte sie von ihm wissen. Er könne nicht schlafen, hat er geantwortet. Erik durfte sich zu ihr setzen und mit ihr etwas fern sehen. Nach einer Weile fragte er seine Mutter, ob sie sich eigentlich vor dem Tod fürchte, was sie verneinte. Warum er das denn wissen wolle. Als er nichts antwortete, erklärte sie ihm, dass das Problem mit dem Tod eine Sache des Gehirns sei.
Dass nämlich der menschliche Verstand einfach nicht imstande wäre, den Tod als solches zu begreifen. Die Angst vor dem Tod sei deswegen nichts weiter als die Reaktion des menschlichen Gehirns auf sein eigenes Unvermögen, sich eine Vorstellung davon zu machen. Eine Art Systemfehler, wie wenn man dem Taschenrechner eine unmögliche Rechnung stellt und er nur Nullen ausspuckt.
Erik war damals zehn, vielleicht elf Jahre alt, und er kann nicht mehr mit Sicherheit sagen, ob er wirklich verstanden hatte, was sie ihm zu verdeutlichen versuchte. Aber alleine, wie sie es sagte, ihre Stimme, ihr scheinbares Urvertrauen in die eigenen Worte hatten eine beruhigende Wirkung auf ihn, ja haben sie heute noch, wie er feststellt, als er wieder die Augen öffnet.
Er ruft seine Mutter an, als er aus dem Tram gestiegen ist, um sie zu fragen, ob sie sich an diese Szene erinnern könne. Doch er erreicht sie nicht. Es ist weit nach Mitternacht, und hoffentlich schläft sie. Er wird sie morgen anrufen und fragen. Und dabei ist es gar nicht so wichtig, ob sie sich daran erinnern kann, oder nicht. Denn er tut es ja.
Pascal Gut ist 40 Jahre alt, lebt und arbeitet in Zürich als freier Autor. 2014 erschien beim Emons Verlag mit dem Titel «Zürcher Finsternis» sein erster Roman.
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